COVID-19 und IV

    Invalidisierende Langzeitfolgen von COVID-19

    Rund ein Viertel der COVID-19-Betroffenen leidet 6 Monate nach einer Erkrankung noch an Symptomen. Welcher Anteil dieser Betroffenen langfristig in der Erwerbsfähigkeit eingeschränkt bleibt - und damit invalid im Sinne der IV wird - lässt sich heute erst grob voraussagen. Genau quantifizieren lassen sich die Fälle erst, wenn gross angelegte Studien über langjährige Verläufe ausgewertet werden können. Nach heutigem Wissensstand muss davon ausgegangen werden, dass es COVID-19-Betroffene mit langfristiger Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit geben wird. Stand heute sind in der Schweiz bereits über eine halbe Million  COVID-19-Infektionen nachgewiesen worden. Experten gehen zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. Wenn nur ein kleiner Bruchteil davon invalid wird, ist mit tausenden von IV- Fällen zu rechnen[1].

     

    Beschwerdebilder ohne organisch nachweisbare Grundlage in der IV

    Seit dem Jahr 2004 gilt die Vermutung, dass für somatoforme Schmerzstörungen in der Regel keine Leistungen der IV zugesprochen werden[2]. Diese Rechtsprechung wurde im Anschluss daran auf Schleudertraumata ohne nachweisbare organische Grundlage[3] sowie auf psychische Erkrankungen[4] ausgeweitet. Begründet wurde die Regel damit, dass solche Beschwerden «in der Regel überwindbar seien».

    Offensichtlich bringen nicht objektivierbare Beschwerden im IV-Abklärungsverfahren besondere Herausforderungen mit sich, da unbegründete Gesuche aussortiert werden müssen. Die Überwindbarkeitsvermutung führte jedoch während rund zehn Jahren zum Ergebnis, dass unzählige Betroffene von psychischen Leiden und sog. nicht objektivierbaren Beschwerden zu Unrecht keine Leistungen der IV erhielten. Die Bundesgerichtspraxis hat die Vermutung, dass Leiden aufgrund somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischer Leiden in der Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind, deshalb im Jahr 2015 aufgegeben. Seiter ist in einem strukturierten Beweisverfahren das tatsächliche Leistungsvermögen betroffener Personen ergebnisoffen und einzelfallgerecht zu bewerten[5].

    Bei objektivierbaren wie auch bei unklaren Beschwerdebildern setzt eine Anspruchsberechtigung gleichermassen eine nachvollziehbare ärztliche Beurteilung der Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit voraus. Abklärungs- und Beweisschwierigkeiten können die Berücksichtigung von - allenfalls durch fremdanamnestische Angaben zu erhebende - Lebensbereichen wie Freizeitverhalten oder familiäres Engagement erfordern.  Bleiben die Auswirkungen eines objektivierbaren oder eines nicht (bildgebend) fassbaren Leidens auf die Arbeitsfähigkeit trotz sorgfältiger und umfassender Abklärungen vage und unbestimmt und können die Einschränkungen nicht anders als mit den subjektiven Angaben der versicherten Person begründet werden, ist der Beweis für die Anspruchsgrundlage nicht geleistet und nicht zu erbringen. Die entsprechende Beweislosigkeit wirkt sich zu Lasten der versicherten Person aus[6].

    Generell ist der Nachweis von Beschwerdebildern ohne organisch nachweisbare Grundlage im Sozialversicherungsverfahren eine besondere Herausforderung, stehen diese doch heute noch unter dem Generalverdacht, durch den Patienten übertrieben dargestellt zu werden.

     

    COVID-19-Langzeitfolgen als Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage?

    Eine für die Betroffenen entscheidende Frage wird sein, wie die COVID-19-Langezeitfolgen im IV-Abklärungsverfahren eingeordnet werden. Hauptsächliche Symptome sind Müdigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsdefizite, Haarausfall und Atemnot.

    Es handelt sich zumindest bei Müdigkeit, Kopfschmerzen und Konzentrationsdefiziten um Beschwerdebilder, welche vor allem aufgrund der Schilderungen des Patienten diagnostiziert werden, die also schwer objektivierbar sind. Es ist anzunehmen, dass dafür die sogenannte Indikatorenpraxis des Bundesgerichts zur Anwendung gelangt. Dies ist allerdings heute[7] nicht geklärt und wird noch in einem Leitentscheid des Bundesgerichts festzulegen sein.

    Bei rund einem Drittel der Patienten, die sechs Monate nach der Infektion noch über Beschwerden klagen, sind Schädigungen der Lunge durch bildgebende Massnahmen nachweisbar[8]. In diesen Fällen handelt es sich um objektivierbare organische Beschwerden, womit es fragliche ist, ob Indikatorenpraxis anwendbar ist[9].

    Schon heute lässt sich jedenfalls festhalten:

    Es muss im Einzelfall beurteilt werden, welche Beschwerden im konkreten Fall zur Einschränkung der Erwerbsfähigkeit führen. Der medizinischen Dokumentation kommt eine wichtige Bedeutung zu.

     

    IV-Anmeldung bei COVID-19-Langzeitfolgen

    Um sicher zu gehen, dass keine Leistungen der IV verwirken, muss die IV-Anmeldung spätestens sechs Monate nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erfolgen[10]. Dies gilt auch für COVID-19-Fälle. Es empfiehlt sich, fünf Monate nach Ausbruch der Erkrankung betreffend IV eine Lagebeurteilung vorzunehmen. Sind die Symptome bis dann nicht abgeheilt, sollte eine Anmeldung bei der IV[11] erfolgen und fachkundiger Rat eingeholt werden.

     

    Leistungen der IV - Frühinterventions- / Integrationsmassnahmen - Rente

    Die IV hat sich im Verlauf der vergangenen Revision von einer Rentenversicherung zur Eingliederungsversicherung gewandelt, d. h. eine allfällige Rentenzusprache erfolgt in aller Regel erst nach der Eingliederung („Eingliederung vor Rente“).

    Da derzeit die Langzeitfolgen von COVID-19 auch versicherungsrechtlich noch vollkommen unklar sind, ist betreffend IV festzuhalten, dass in ersten Schritten in aller Regel Frühinterventions-/Integrationsmassnahmen im Leistungskatalog der IV zur Diskussion stehen.

    Durch die Frühintervention soll mittels niederschwelliger, schnell einsetzbarer Massnahmen dazu beigetragen werden, dass ganz oder teilweise arbeitsunfähige (Art. 6 ATSG) bei der IV angemeldete (Art. 1sexies IVV) Personen ihren bestehenden Arbeitsplatz behalten oder an einem neuen Arbeitsplatz innerhalb oder ausserhalb des bisherigen Betriebes eingegliedert werden können. Massnahmen der Frühintervention setzen im Gegensatz zu ordentlichen Eingliederungsmassnahmen keine (bestehende oder drohende) Invalidität, sondern nur eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG voraus. Anders als auf ordentlichen Eingliederungsmassnahmen besteht auf Massnahmen der Frühintervention kein Rechtsanspruch und die Durchführung von Massnahmen der Frühintervention löst anders als gegebenenfalls die Durchführung von ordentlichen Eingliederungsmassnahmen keinen Anspruch auf Taggeld und keinen Anspruch auf einen Entschädigung für Betreuungskosten aus. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass die Kosten für die Massnahmen der Frühintervention pro versicherte Person insgesamt CHF 20'000.-- nicht übersteigen dürfen (Art. 7d Abs. 4 IVG i. V. m. Art. 1octies IVV). Dadurch ist das Risiko tragbar, dass Massnahmen der Frühintervention - wegen des Fehlen monatelanger umfassender Abklärungen zur Frage einer (drohenden) Invalidität - einzelnen Personen zukommen, die auch ohne diese Massnahmen nicht invalid würden. Im Rahmen der Frühintervention kann die IV gemäss Art. 7d Abs. 2 IVG folgende Massnahmen anordnen: Anpassungen des Arbeitsplatzes, Ausbildungskurse, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, sozial-berufliche Rehabilitation und Beschäftigungsmassnahmen. Der Bundesrat hat von seiner Befugnis, den Massnahmenkatalog des Art. 7d Abs. 2 IVG zu erweitern (Art. 7d Abs. 4 Satz 1 IVG), keinen Gebrauch gemacht.

    Versicherte, die seit mindesten sechs Monaten zu mindestens 50% arbeitsunfähig sind, haben Anspruch auf Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung, sofern dadurch die Voraussetzungen für die Durchführung von Massnahmen beruflicher Art geschaffen werden können. Gemäss Art. 4quater IVV müssen Versicherte sodann fähig sein, mindestens zwei Stunden täglich während mindestens vier Tagen pro Woche an Integrationsmassnahmen teilzunehmen. Gemäss Art. 4quinquies können Integrationsmassnahmen in Form der sozialberuflichen Rehabilitation (Belastbarkeits- / Aufbautraining), WISA (wirtschaftsnahe Integration mit Support am Arbeitsplatz) und Beschäftigungsmassnahmen zugesprochen werden. In aller Regel haben Personen im Rahmen von Integrationsmassnahmen Anspruch auf ein akzessorisches Taggeld.

     

    Dr. Marco Chevalier

    Fachanwalt SAV für Haftpflicht- und Versicherungsrecht, Basel

    https://www.liatowitsch.ch/dr-marco-chevalier/

     

    [1] Gemäss NZZ e-paper vom 16.2.2021 ist für die Schweiz mit bis hunderttausend Fällen von Personen mit Long COVID-19 zu rechnen.

    [2] BGE 130 V 352, sog. Überwindbarkeitsvermutung.

    [3] BGE 136 V 279.

    [4] BGE 143 V 418.

    [5] BGE 141 V 281.

    [6] BGE 140 V 290, E. 4.2.

    [7] 26.2.2021

    [8] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.01.27.21250617v2.full

    [9] Auch dies wird die Rechtsprechung noch klären.

    [10] Art. 29 IVG.

    [11] Link zum Anmeldeformular: https://www.ahv-iv.ch/de/Merkbl%C3%A4tter-Formulare/Formulare/Leistungen-der-IV#d-539

     

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